Besprechung neuerer Arbeiten
von Hubertus Illner
Aufbauend auf den Untersuchungen von TOBIAS DÜRR, Staatliche Vogelschutzwarte Brandenburg, wurden die Totfunde von Rotmilanen unter Windenergieanlagen (WEA) im Bundesland Brandenburg einer detaillierten statistischen Auswertung unterzogen1). Danach verunglückten allein in diesem Bundesland ab dem Jahr 2012 schätzungsweise jährlich etwa 300 Rotmilane an den rund 2860 WEA (umgerechnet rund ein toter Rotmilan pro zehn WEA), was rund 3 % der nachbrutzeitlich vorhandenen Individuenzahl Brandenburgs entsprach. Es wurde eine „Todesrate“ von 4 % errechnet, ab der die durch WEA-Kollisionen verursachte Zusatzmortalität sich sogar negativ auf die Bestandsentwicklung des gesamten Landesbestandes auswirken würde. Dieser kritische Wert könnte mit der Inbetriebnahme weiterer, Ende 2011 genehmigter (297) und beantragter (362) WEA bald in Brandenburg erreicht sein, was einer mittleren Anlagendichte von rund 12 WEA pro 100 km² entspricht. Dieser Schwellenwert wurde gleichwohl schon in dem ostwestfälischen Dichtezentrum des Rotmilans im April 2013 erreicht, als im 6520 km² großen Regierungsbezirk Detmold 789 WEA in Betrieb waren (Kreis Paderborn ist der Windmeister der Region). Mammen et al. (2013) stellten zudem keinen Unterschied der Tötungsraten an großen und kleinen WEA fest. Von daher ist nicht zu erwarten, dass mit neuen, größeren WEA, auch im Ersatz für kleine Altanlagen (Repowering), das Kollisionsrisiko für den Rotmilan abnehmen würde.
In einer weiteren fundierten Studie wurde die Auswirkung von WEA auf eine Greifvogelpopulation erforscht2). Auf der norwegischen Insel Smøla wurden in einem Dichtezentrum des Seeadlers von 2002 bis 2005 mit 68 WEA (Nabenhöhe 70 m, Rotorradius 41 m) Norwegens größter Windpark errichtet. Die Brutplätze und der Bruterfolg der dort auf dem Boden brütenden Seeadler (die Insel ist weitgehend baumfrei) wie auch das Verhalten3) wurden vor und nach dem Aufstellen der WEA im Windpark und in entfernten Vergleichsflächen nach standardisierter Methodik untersucht. Außerdem wurde unter den WEA systematisch nach Schlagopfern, zum Teil mit Spürhunden, gesucht (Bevanger et al. 2009 und 2010, genaue Zitate siehe Eulen-Rundblick Nr. 62: 96). Von 2005 bis 2009 wurden 28 Seeadler tot unter den WEA gefunden, darunter 16 adulte Vögel. Bis Ende Januar 2014 waren in diesem Windpark insgesamt mindestens 56 Seeadler tödlich an den WEA verunglückt (T. NYGÅRD schriftlich), was einer Todesrate von rund einem Seeadler pro 11 WEA und Jahr entspricht. Der Bruterfolg verminderte sich in dem Bereich signifikant, in dem die WEA näher als 500 m an den Brutterritorien errichtet worden waren, während er in den Vergleichsflächen ohne WEA in etwa gleich blieb4). Der Rückgang des Bruterfolgs an den WEA beruht vor allem auf dem Verlassen von Brutterritorien, was durch kollisionsbedingten Verlust des Paarpartners, durch Vertreibungswirkung aufgrund des Betriebs der WEA und/oder durch unmittelbare Zerstörung des Brutplatzes durch Fundamente.
Die in demselben Windpark durchgeführten Verhaltensstudien5) ergaben, dass die Seeadler im Windpark kein deutliches Meideverhalten zu den WEA zeigen. Ihr Verhalten unterscheidet sich kaum innerhalb und außerhalb des Windparks; im Windpark zeigten sie sogar eine leicht erhöhte Flugaktivität in dem Höhenbereich, in dem sich die Rotoren drehen. Die Altvögel wiesen eine höhere Flugaktivität als Subadulte auf und dies besonders in der territorialen Phase im Frühjahr, wenn auch die meisten Seeadler an den WEA verunglückten. Die Flugaktivität in Rotorhöhe ist wenig wetterabhängig, sie ist allenfalls bei höheren Temperaturen leicht erhöht.
An zwei WEA auf der Insel Smøla wurde im Jahr 2012 ein Videoaufnahme- und Warnsystem getestet6). Das Video-System erfasste 76 % bis 96 % der Vogelflüge nah an den Rotoren. Eine Identifizierung auf Artniveau war mit den Videoaufnahmen nicht möglich. Bis in Entfernungen von 150 m vom Rotorblatt erfasste das System im gesamten Kreisumfang, in Entfernungen von 150 m bis 300 m nur noch in der Hälfte des Kreisumfangs. Das System löste auch mehrfach Fehlalarme aus. Nach diesem Feldtest ist unklar, ob das Warnsystem wirkungsvoll und effizient Kollisionen von Vögeln in Windparks verhindern kann. Eine aktuelle Pressemitteilung des Betreibers des Windparks, des norwegischen Energieunternehmen Statkraft, zeigt die Prognose-Unsicherheiten bezüglich der bisherigen Maßnahmen zur Verminderung des Kollisionstodes auf der Insel Smøla (Birds Could Avoid Wind Turbines Painted Black and White). Als weitere Schadens-Minderungsmaßnahme werden nun die Rotoren (einer von dreien je WEA) und unteren Mastzonen von acht der 68 WEA mit einem schwarzen Anstrich versehen, der den Kontrast und damit die Sichtbarkeit für Vögel erhöhen soll. Auch sollen Versuche mit UV-Beleuchtung an den WEA durchgeführt werden, die Vögel besser als Menschen wahrnehmen können. Die Hoffnung besteht, dass die Kollisionsraten sich so vielleicht reduzieren lassen. DAHL et al.7) machen gleichwohl deutlich, dass es wichtig ist, durch intensive Vorab-Untersuchungen die Gebiete für die Errichtung von WEA zu identifizieren, in denen die maßgeblichen gefährdeten Arten in geringer Dichte vorkommen.
Nach einer Studie im nordamerikanischen Wisconsin8) zeigten die untersuchten Greifvögel ein deutliches Meideverhalten zu einem Windpark aus 86 WEA mit einer Nabenhöhe von 80 m und einem Rotorradius von 38 m. Eine Geier-, Bussard- und Falkenart zeigten ein riskanteres Flugverhalten als die anderen Greifvogelarten, in dem sie häufiger weniger als 500 m entfernt von den WEA in der Rotorenhöhe flogen. Nur von der einen Bussardart wurden Kollisionsopfer unter den WEA gefunden, hochgerechnet etwa drei pro zehn WEA und Jahr. Es wurde allerdings nur ein Jahr lang unter 34% der WEA nach Schlagopfern gesucht, so dass wahrscheinlich bisher noch kein repräsentatives Bild der Kollisionshäufigkeiten der einzelnen Arten in diesem Windpark ermittelt worden ist.
In einer groß angelegten Studie9) zeigte sich kein klarer Zusammenhang von prognostizierter Kollisonsgefährdung an WEA und der realen Zahl an Schlagopfern nach der Errichtung von Windparks. Grundlage der Untersuchungen in Südspanien waren Vogelerfassungen von 1999 bis 2000 in 53 potenziellen Windparkarealen (je Windpark mit potenziell 6-30 WEA jeweils 107 h bis 228 h Beobachtungszeit) und Schlagopfer-Erfassungen von 2005 bis 2008 in den 20 von 53 potenziellen Windparks, in denen WEA genehmigt und errichtet wurden; die WEA hatten Nabenhöhen von 57 m bis 80 m und Rotorradien von 28 m bis 45 m. In den Windparks wurde, in Abhängigkeit von der Betriebszeit der WEA, 11 bis 34 Monate lang täglich zu Fuß oder mit einem Fahrzeug unter sämtlichen WEA nach Schlagopfern gesucht, wobei der Erfassunsmodus auf mittelgroße und große Vögel ausgerichtet war. Die reinen Totfundzahlen gingen in die Auswertung ein. Es wurden insgesamt 124 tote Greifvögel (und weitere 337 Vögel oder umgerechnet 13 Vögel pro 10 WEA und Jahr gefunden. Die ersten zehn Rangplätze belegen (jeweils Schlagopfer pro 10 WEA und Jahr): Gänsegeier 3,5, Grauammer 1,7, Haussperling 1,5, Kalanderlerche 0,9, Turmfalke, Haubenlerche, Kuhreiher, Schlangenadler und Stockente jeweils 0,4 sowie Rothuhn 0,3. Von zwei Eulenarten lagen Totfunde vor: bei der Schleiereule 0,03 und Steinkauz 0,01 pro 10 WEA und Jahr. Es wurde kein signifikanter Zusammenhang der Häufigkeit pro Beobachtungsstunde vor dem Aufstellen der WEA und der Kollisionsrate nach dem Aufstellen der WEA festgestellt, weder für die Vögel insgesamt, noch für alle Greifvögel oder einzelne Greifvogelarten. Signifikante Korrelationen ergaben sich auch nicht für analoge Berechnungen mit Indizes, in die neben der Beobachtungshäufigkeit u.a. auch die Häufigkeit der Flüge in Rotorenhöhe einging. Mehrere mögliche Ursachen können für das Ausbleiben signifikanter Korrelationen angeführt, von denen die Autoren selbst nur einige nennen:
Die 33 Windparks mit dem größten prognostizierten Kollisionspotenzial wurden nicht genehmigt und wurden entsprechend nicht auf Kollisionsopfer untersucht.
Die Vogelerfassungen vor dem Aufstellen der WEA waren nicht repräsentativ, u.a. hinsichtlich der ausgewählten festen Beobachtungspunkte und der Wetterbedingungen, z.B. waren die Beobachtungszeiten mit Ost- und Westwind überrepräsentiert und die mit schlechten Sichtbedingungen unterrepräsentiert.
Die Vogelerfassungen vor dem Aufstellen der WEA lagen fünf bis neun Jahre vor den Erfassungen der Schlagopfer. Es ist unklar, ob die Besiedlungs-Verhältnisse in dieser Zeitspanne grundsätzlich ähnlich geblieben sind.
Die Methodik der Vogelerfassungen vor dem Aufstellen der WEA war unzureichend, vor allem weil die unterschiedliche Sichtbarkeit von Vögeln in verschiedenen Flughöhen nicht in Betracht gezogen wurde und weil die visuellen Flughöhenschätzungen einem unbekannten, vermutlich großem Schätzfehler unterliegen (Näheres dazu: Stellungnahme).
Die Methodik und Auswertung der Schlagopfererfassungen war unzureichend, weil die Erfassungsmethode uneinheitlich war (zu Fuß oder mit Fahrzeug) und die Erfassungszeiten zum Teil zu kurz waren (ein Jahr reicht bei weitem nicht) und weil die Abtragerate durch Aasfresser und die Erfassungseffizienz (auch in Abhängigkeit von Beobachter und Substrat) nicht ermittelt und in den Auswertungen als Korrekturfaktoren berücksichtigt wurden.
Die Autoren schlussfolgern, dass mit einer Ausweitung der Vorab-Erfassungen von Vögeln, vor allem in Hinblick auf einzelne potenzielle WEA-Standorte und ihre Topographie, die Vorhersagegüte und somit die Windkraftplanung sich verbessern ließe. Dieses Resümee überzeugt angesichts der vielen methodischen Unzulänglichkeiten nicht, die bestehen bleiben würden. Auch ist anzuzweifeln, dass normalerweise ausreichend Mittel und Zeit zur Verfügung stehen würden, um solche methodisch ausgereiften und umfangreichen Untersuchungen im Vorfeld von Windstandort-Suchverfahren durchzuführen.
Vielversprechender sind umfassende Auswertungen von Schlagopfern, wie die unter den Zitaten 1 und 2 genannten und die von Martina Carrete et al. 2009 und 2012 publizierten zu Schmutz- und Gänsegeiern (vollständige Zitate im Eulen-Rundblick Nr. 62: 97). Das Autorenteam erarbeite ein robustes Vorhersagemodell für die ortsspezifische Wahrscheinlichkeit von WEA-Kollisionen des Gänsegeiers. Als Eingabegrößen für das Vorhersagemodell sind „nur“ nötig: die Fundorte der Kollisionsopfer einer Art, die Entfernung des Fundortes zur nächsten WEA oder Windpark und die Verbreitung (z.B. Brut- und Schlafplätze) und Häufigkeit der betreffenden Art10). Die Autoren sehen deshalb in der Anwendung des Wissens über Verbreitung und Häufigkeit der relevanten kollisionsgefährdeten Vogelarten und des international anerkannten Vorsorgeprinzips die beste Richtschnur zur großräumigen Windkraftplanung. Einen ähnlichen Pfad beschreiten die deutschen Vogelwarten mit ihren Abstandsempfehlungen, die im Jahr 2007 erstmals publiziert wurden und deren Überarbeitung angekündigt ist11).